Innovations-Teams der Charité - Neue digitale Lösungen für Arzt und Patient
Freitag, 26. Januar 2018
Alexandra Hensel Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,
Berliner Institut für Gesundheitsforschung / Berlin Institute of Health (BIH)

institution logo

Innovations-Teams der Charité im Digital Health Accelerator des Berlin Institute of Health stellen Digital Health-Lösungen vor.

Am 24. Januar präsentierten in Berlin vier Innovationsteams aus dem Pilotprojekt „Digital Health Accelerator“ des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung/Berlin Institute of Health (BIH) und zwei Startups aus der Charité – Universitätsmedizin Berlin ihre Digital-Health-Lösungen für den Klinikalltag. Die neuen Lösungen nutze
n vor allem neue Bild- und Big-Data-Analyseverfahren sowie Sensorik für verbesserte Vorhersagen, Präventionskonzepte und personalisierte Behandlungsmöglichkeiten von schwerwiegenden Erkrankungen.

Der Schlaganfall ist weltweit eine häufige Todesursache. Allein in Europa erleiden jährlich mehr als eine Millionen Menschen einen Schlaganfall. Manche enden tödlich, andere führen zu schweren gesundheitlichen Einschränkungen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen, dass eine Vielzahl der Schlaganfälle vermeidbar sind und erwarten, dass die Zahl der Schlaganfälle aufgrund der steigenden Lebenserwartung ebenfalls beträchtlich zunimmt. Dr. Dietmar Frey von der Charité und sein Team haben ein Simulationsprogramm zur individuellen Schlaganfallprognose entwickelt. Dabei werden verschiedenste klinische und persönliche Daten integriert. Zusätzlich soll die Wahl der individuell optimalen Behandlungsstrategie zur Schlaganfallprävention ermöglicht werden. Das Team strebt an, die Anwendung Mitte 2019 auf den Markt zu bringen.

Patienten- und Bilddaten für bessere Therapieverfahren
Das Team um Professor Marc Dewey von der Charité analysiert mit Hilfe von künstlicher Intelligenz klinische Informationen und radiologische Bilddaten. Ihr Ziel ist es, bei Patientinnen und Patienten das individuelle Risiko für Herzerkrankungen vorherzusagen. Damit adressiert das Projekt ein weltweit häufig auftretendes Problem: Jedes Jahr stellen sich etwa 50 Millionen Menschen mit Brustschmerzen bei ihrer Ärztin oder ihrem Arzt vor. Die Einschätzung des individuellen Risikos war bisher ungenau und führt oft zu Komplikationen bei den Behandlungen. Unter Nutzung von gut validierten Patienten- und Bilddaten ist es dem Team nun gelungen diese Risikoeinschätzung zu verbessern, zu individualisieren und zu digitalisieren sowie Behandlungsabläufe zu optimieren.
Eine neue digitale Technologie für die Diagnose von einer Vielzahl von Herz- und Krebserkrankungen, inklusive Tumoren in Brust, Leber und Prostata, entwickelt das Team um Dr. Florian Michallek von der Charité unter der Leitung von Professor Dewey. Sie haben eine nicht-invasive Bildanalysemethode erstellt, die auf der Fraktalanalyse basiert. Hier geht es um die vom Team patentierte Fraktalanalyse von dynamischen Bilddaten. Diese Methode ist hervorragend geeignet, Tumoren ohne einen Eingriff in den Körper exakt zu charakterisieren.

Digitale Lösungen für die Patientenversorgung auf der Intensivstation
Eine Verbesserung der Patientenversorgung auf Intensivstationen will das Team um Dr. Alexander Meyer vom Deutschen Herzzentrum Berlin erreichen. Ihre digitale Vorhersageanwendung soll dazu beitragen, postoperative Vorfälle wie innere Blutungen oder Nierenversagen bei Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation individuell vorherzusagen und damit proaktiv vermeiden zu können. Dazu werden vorhandene Monitoring- und Labordaten aus der intensivmedizinischen Versorgung miteinander kombiniert und über Künstliche-Intelligenz-Programme ausgewertet. Über 2 Millionen Behandlungen in Intensivstationen pro Jahr allein in Deutschland könnten von dieser Lösung profitieren.

Innovationsteams am Berlin Institute of Health, v.l.n.r.:Faragli, Meyer, Michallek, Dewey, Mansow-Model, Frey


Im Herbst 2017 startete der Digital Health Accelerator in einem Coworking Space in den Räumlichkeiten des BIH. Der Digital Health Accelerator gehört zu Berlin Health Innovations, der gemeinsamen Technologietransfer-Einheit des BIH und der Charité. Er soll Innovationsteams den entscheidenden Impuls geben und die nötige Professionalisierung sicherstellen, um Geschäftsmodelle und Produkte erfolgreich zum Markt und damit zu den Patientinnen und Patienten zu bringen. Derzeit erhalten vier interdisziplinäre Teams mit rund 25 Personen von Berlin Health Innovations finanzielle Förderung und intensives Coaching und Mentoring, unter anderem in den Bereichen Data Science, patientenorientierte Produktentwicklung, Regulierung, Entwicklung von Geschäftsmodellen und Design, und konnten so ihre Ideen über die vergangenen Monate weiterentwickeln. Zudem werden die Teams bei Fragen zum Wissenstransfer, zur Gründungsberatung, Netzwerkbildung mit Forschenden und Gründerinnen und Gründern sowie in ausgewählten Fällen bei der Validierung des Produktnutzens an Patientinnen und Patienten unterstützt.

Die Stärkung der „Digital Medicine“ Aktivitäten und der Transfer der aus diesem Bereich entstehenden Innovationen zählt zu den wichtigsten Aktivitäten des BIH. Gestern stellten die vier Innovationsteams aus dem Digital Health Accelerator Programm und zwei Charité-Startups ihre Digital-Health-Lösungen in der bis auf den letzten Platz gefüllten Hörsaalruine der Charité vor. "Ich bin sehr stolz, was die ersten Teams in so kurzer Zeit erreicht und beim gestrigen Demo Day den Investoren präsentiert haben und ich bin sicher, dass durch diese Initiative des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung ein wichtiger Beitrag für die Digital Health Gründungsdynamik in der Hauptstadtregion geleistet wird“, sagt Dr. Rolf Zettl, Administrativer Vorstand und das für Innovation und Berlin Health Innovations zuständige BIH-Vorstandsmitglied.

Simulationsprogramm zur Schlaganfallprognose
Digital-Health-Ausgründungen erhalten Starthilfe beim Markteintritt
Berlin Health Innovations fördert zudem Entrepreneure und ihre frühen Digital-Health-Ausgründungen aus Charité und dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin bei ihren Markt-Aktivitäten. Zwei geförderte Startups stellten ebenfalls ihre digitalen Anwendungen dem breiten Publikum vor. Sebastian Mansow-Model zeigte mit Motognosis eine Videoanalyse-basierte Lösung zur klinischen Bewertung von motorischen Symptomen bei Patientinnen und Patienten mit neurologischen Erkrankungen vor. Dr. Alessandro Faragli von Boca Health hat einen mobilen Sensor zur Überwachung des Flüssigkeitshaushalts für Patientinnen und Patienten mit Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen entwickelt.


Weitere Informationen:

http://www.bihealth.org
http://www.berlinhealthinnovations.com

Sechs Ideen für die Medizin von morgen

Karsten Lemm 26.01.2018

 

Die Berliner Uniklinik Charité will Forschung schneller in Produkte umsetzen. Erste Projekte zeigen, wie Ärzte mit Datenanalyse und Künstlicher Intelligenz die Behandlung ihrer Patienten verbessern könnten – vorausgesetzt, das Gesundheitssystem spielt mit.

Immer diese Schmerzen in der Brust: Jedes Jahr eilen 50 Millionen Menschen auf der Welt zum Arzt, wenn sie Angst haben, dass ihr Herz versagt – und ein Großteil von ihnen muss fürchten, eine falsche Diagnose zu erhalten. „Wir ordnen Patienten in Kategorien ein, statt sie individuell zu betrachten“, kritisiert Marc Dewey, Professor für Radiologie an der Berliner Universitätsklinik Charité. Noch immer klammere sich die Medizin an jahrzehntealte, pauschalisierte Verfahren, Menschen zu untersuchen, statt präzise den Blick auf jeden Einzelnen zu richten.

Dewey steht am Mittwochabend vor einem Publikum aus gut 120 Wissenschaftlern, Gesundheitsexperten und Investoren, um seine Lösung für das Problem zu präsentieren: eine App, die Ärzte Schritt für Schritt zur wahrscheinlichsten Erklärung für die Beschwerden führt; für jeden Patienten eigens berechnet, ganz so, wie es Erkenntnisse aus mehr als 7000 früheren, ähnlichen Fällen nahelegen.

Charité-Professor Marc Dewey bei seinem Pitch in Berlin.

Dieser Schatz aus verlässlichen medizinischen Messwerten und Diagnosen, den Dewey und sein Team über fünf Jahre hinweg aus zahlreichen Ländern zusammengetragen haben, bildet die Grundlage für das neue, digitale Diagnosemodell. Bis zu 25 Millionen Menschen jährlich könnten davon profitieren, verspricht Dewey, „weil sie eine korrekte Einschätzung dafür erhalten, wie groß ihr Risiko ist, am Herzen zu erkranken“.

Er braucht nur Geld, um aus dem Konzept ein Produkt zu machen. So wie alle, die an diesem Abend ihre Projekte vorstellen: Sechs Ideen, die aus der Forschung an der Charité hervorgegangen sind, sollen schnell und unkompliziert auf den Markt gebracht werden – das ist der Gedanke beim ersten Accelerator Day, den das Berlin Institute of Health, BIH, und Berlin Health Innovations organisiert haben.

„Wir bauen eine Fabrik für digitale Gesundheitsfirmen“: Direktor Klaus Nitschke präsentiert das BHI-Konzept.

Die Struktur der beiden Organisationen ist kompliziert, mit Querverstrebungen zwischen Staat, Uni und Instituten – ihr Auftrag dagegen simpel: Es geht darum, die Brücke zu schlagen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, damit vielversprechende Projekte nicht im Labor verkümmern, sondern Patienten Nutzen bringen. Ohne Umwege, ohne Umstände. Ganz so, wie man das aus der Startup-Welt kennt, die den Campus der Uniklinik in Berlin Mitte umgibt.

„Wir bauen eine Fabrik für digitale Gesundheitsfirmen auf“, erklärt BHI-Direktor Klaus Nitschke, während der Projektor hinter ihm Diagramme und Zahlen an die Diawand wirft. Die Präsentation soll Investoren von einer einzigartigen Gelegenheit überzeugen: Zugang zu mehr als 4000 Forschern und Ergebnissen ihrer Arbeit; 2000 Projekte basierend auf 27 Millionen Labordaten; Knowhow aus acht medizinischen Fakultäten. Und, nicht zu vergessen, „Marken, denen Menschen vertrauen“ – ein großes Plus, wenn es um Gesundheit geht, hoffen Nitschke und seine Kollegen.

Gesucht werden Geldgeber, die bereit sind, mindestens fünf Millionen Euro im Jahr in die Weiterentwicklung der Projekte zu stecken, und die viel Geduld mitbringen. Denn bis Forschungsprojekte alle Hürden genommen haben, vom Praxistest bis zur Zulassung durch Behörden, werden Jahre vergehen. Im Gegenzug stellt Nitschke Investoren ehrgeizige Renditen von 20 bis 30 Prozent in Aussicht und verspricht ihnen als Extra-Anreiz das wohlige Gefühl, nicht einfach ein weiteres Konsumrausch-Startup zu finanzieren, sondern etwas für das Wohl der Menschheit zu tun.

Eine KI, die das Schlaganfall-Risiko berechnet: Entwickler Dietmar Frey.

Alle Ideen, die an diesem Abend vorgestellt werden, liegen auf der Schnittstelle zwischen heute und morgen, bewegen sich zwischen Visionen, Prototypen und ersten Tests, drehen sich um Big Data und Sensoren, künstliche Intelligenz und menschliche Intelligenz.

Ein KI-System, das der Gehirnforscher Dietmar Frey entwickelt hat, nutzt Untersuchungsergebnisse von Patienten, um zu berechnen, wie hoch ihr Schlaganfall-Risiko ist. Sein Kollege Alexander Meyer vom Deutschen Herzzentrum will lernfähige Algorithmen nutzen, um die Überlebenschancen von Patienten in Intensivstationen zu verbessern: Sein System beobachtet kontinuierlich alle Messwerte, um Alarm zu schlagen, wenn sich Komplikationen wie innere Blutungen oder Nierenversagen abzeichnen. So sollen Ärzte eingreifen können, ehe es für die Patienten lebensbedrohlich wird.

Aufwändige Untersuchungen, die oft Eingriffe in den Körper verlangen, will der Radiologe Florian Michallek mit höherer Mathematik vereinfachen: Fraktalanalyse könne helfen, Herzkrankheiten, aber auch Krebserkrankungen zu erkennen, erklärt Michallek. Dazu werden die Aufnahmen von CT- oder MRT-Scans per Software untersucht und durch komplexe Algorithmen so weit verfeinert, bis sich zeigt, ob eine Erkrankung vorliegt. Allein bei Protatakrebs ließen sich auf diese Weise 400 Millionen Euro im Jahr sparen, wenn herkömmliche Biopsien durch Fraktalanalyse ersetzt würden, erklärt Michallek. „Wir prüfen auch den Einsatz von Fraktalanalyse für Brustkrebs.“ Eine Patentanmeldung läuft.

Fraktalanalyse für weniger aufwändige Vorsorge-Untersuchungen – mitentwickelt von Charité-Forscher Florian Michallek.

Aus zwei Projekten sind bereits Firmen entstanden: Boca Health misst Schwankungen im Wasserhaushalt des Körpers, um daraus Hinweise auf Nierenschäden oder Herzerkrankungen abzuleiten. Motognosis nutzt Video-Aufnahmen für die Beobachtung von motorischen Störungen – etwa bei Parkinson-Patienten oder Menschen, die oder Multipler Sklerose leiden. Das soll Ärzten helfen, auch aus der Ferne zu beobachten, wie gut die verschriebenen Arzneien wirken.

Bisher verwendet Motognosis dazu die Kinect-Bewegungserkennung der Xbox, die Microsoft nicht mehr weiterentwickeln will. Das Startup arbeitet aber daran, die Technologie auch auf andere Systeme zu übertragen, darunter Intels Realsense. Vier Jahre Forschung stecken in der Idee, erzählt Mitgründer Sebastian Mansow-Model. „Auf Kongressen sind Neurologen auf uns zugekommen und haben gesagt: ,Das brauchen wir. Gibt es das auch als Produkt?‘“

Sebastian Mansow-Model erklärt, wie sein Startup Motognosis die Xbox-Kinect-Kamera zur Patienten-Diagnose nutzt.

Nun steht Motognosis vor der gleichen, großen Herausforderung wie alle anderen hier: Medizin ist kein Markt wie jeder andere. Behörden und Vorschriften regeln, wer was tun darf – und wie und wann und warum. Ärzte, Kliniken und Pharmakonzerne wollen Geld verdienen, während Krankenkassen versuchen, die Kosten in den Griff zu bekommen.

Deshalb geben Skeptiker den vielen neuen Ansätzen, Krankheiten zu behandeln (oder sogar zu verhindern), nur geringe Chancen: „Das sind alles Insellösungen“, sagt der Herzspezialist Joachim Wunderlich, der im Publikum sitzt und die Pitch-Parade wenig beeindruckt an sich vorüberziehen lässt. Nötig wäre aus seiner Sicht eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems, angefangen mit der Digitalisierung der Patientendaten – so, wie es in Ländern wie Dänemark oder Israel längst Alltag ist.

Marc Dewey, der Entwickler des digitalen Herzdiagnose-Systems, kennt solche Einwände. Er weiß, dass die Abwehrkräfte des Gesundheitsapparats anschlagen, wenn Möchtegern-Revolutionäre wie er mit neuen Ideen kommen. Aber er habe auch die Erfahrung gemacht, dass viele offen seien, dem Neuen eine Chance zu geben, erzählt der 41-Jährige: „Ich kriege überwiegend positive Reaktionen.“ Schließlich wollten viele Ärzte in erster Linie für ihre Patienten da sein und nicht einfach nur Geld scheffeln.

Im Idealfall könnten also in wenigen Jahren Menschen, die Schmerzen in der Brust verspüren, zu ihrem Hausarzt gehen und bekämen eine individuelle Einschätzung auf Basis vergleichbarer Fälle, ohne dass der Arzt ein Herzspezialist sein muss. Dank des Systems aus der Uniklinik in der Berlin. „Alles, was wir heute gezeigt haben, sind Dinge, die aus der Forschung kommen“, sagt Dewey.

Es ist die wissenschaftliche Neugierde, die ihn antreibt, der Drang, mit immer neuen Methoden zu verstehen, was im Körper schiefläuft oder demnächst schieflaufen könnte. Deshalb mag er sich auch nicht vorstellen, eines Tages seine Professur aufzugeben, selbst wenn ihn seine Forschung zum erfolgreichen Unternehmer machen sollte. „Ich werde nie den universitären Bezug aufgeben“, versichert Dewey. „Ohne die Studenten, das Umfeld hier, hätten wir nicht die Hälfte der Ideen entwickelt. Aber ich bin auch nicht jemand, der nur im Elfenbeinturm sitzen will.“

https://www.wired.de/collection/business/sechs-ideen-fuer-die-medizin-von-morgen